Wenn ein Dichter nach den Sternen greift, darf man gespannt sein. Und wenn der österreichische Schriftsteller und Universalgelehrte Raoul Schrott sich intensiv mit den Sternen beschäftigt, erst recht. Nun stellte er auf Einladung von Dr. Achim Jaeger in der Reihe „Lesung und Gespräch“ sein einzigartiges Buchprojekt „Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit“ am Stiftischen Gymnasium vor. In jahrelanger Arbeit hat der Autor, dessen Texte und Übersetzungen sprachliche Kunstwerke sind, die immer wieder die Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft, Philosophie und Mythologie überschreiten, alles an Wissen zusammengetragen, was er über 17 Sternenhimmel von ebenso vielen Kulturen aller Kontinente in Erfahrung bringen konnte. Ein Mammutprojekt, das im Jahr 2024 mit einem wunderschönen und graphisch aufwändigen Prachtband abgeschlossen wurde.
Gespannt folgte das aufmerksame Publikum in der Aula des Gymnasiums dem faszinierenden und äußerst anregenden Vortrag, der optisch durch Projektionen von Zeichnungen unterstützt wurde, die die Münchner Graphikerin Heidi Sorg mit großer Sorgfalt für das Projekt schuf. Dreifach projizierte historische Himmelskarten zu den Sternbildern verbildlichten die Ausführungen des Autors, der nicht nur exemplarisch himmlische Konstellationen erläuterte, sondern auch die verschiedenen Mythen unterschiedlicher Völker – etwa jenen in China, Indien und auf Tahiti oder von den Inuit, Buschleuten und den Tuareg – nacherzählte und dabei Unterschiede und verblüffende Gemeinsamkeiten hervorhob.
„In einer Zeit vor der Schrift war unser Sternenhimmel ein Kino der Nacht“, stellte Raoul Schrott fest und führte in vielfältiger und abwechslungsreicher Weise vor Augen, wie von den Alten Ägyptern bis hin zu den australischen Aborigines Sternbilder gedeutet wurden. Der Schriftsteller fügte diese Sternsagen zu einem einzigartigen Epos der Menschheitsgeschichte zusammen und verdeutlichte unterschiedliche Funktionen, die der Sternenhimmel hatte: eine pädagogische, eine religiöse sowie eine praktische, etwa im Hinblick auf die Navigation oder den Kalender. Die Sterne seien, neben Jahreszeiten und Sonnenstand, eine Art Uhr und Kalender gewesen: „Und ohne Landwirtschaft keine Kohlenhydrate, nicht viele Kinder, keine Sesshaftigkeit, keine Städte, keine Zivilisation, keine Schrift in unserem Sinn.“
Am Ende des Vortrags verdichtete sich der Eindruck, dass in früheren Zeiten das Sternelesen und -deuten überlebenswichtig und zugleich identitätsstiftend war. Überraschend zudem die Erkenntnis, dass Völker, die über zehntausende Jahre keinen Kontakt mit Anderen hatten, die gleichen oder ähnliche Sternsagen und -mythen teilen. Überzeugend wirkte Raoul Schrotts Einschätzung, dass man den Sternenhimmel lesen könne wie ein Bilderlexikon und eine Kultur (erst) verstehe, wenn man ihren Sternenhimmel kenne. Wie gerne hätte man noch weitere Geschichten über die Sterne gehört. Raoul Schrotts Vortrag war inspirierend und beglückend zugleich.