„Never forget!“ – Die Zeitzeugin Sarah Goldenberg berichtet über die Flucht ihrer Familie von Warschau nach Shanghai

7.02.2022 | Aktuelles, Allgemein, Geschichte, Veranstaltungen

Gemeinsame Gedenkveranstaltung des  Stiftischen Gymnasiums und der Stadt Nesher (Israel) am Internationalen Holocaust-Gedenktag

Das Konzentrationslager Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 von sowjetischen Truppen befreit. Seit 1996 wird am 27. Januar in Deutschland, seit 2005 weltweit der Opfer des Holocaust gedacht. Zwei Schulklassen des Stiftischen Gymnasiums unterstützen in diesem Jahr am internationalen Holocaust-Gedenktag die Kundgebung der Friedensgruppe Düren am Kaiserplatz. Hier wurde in mehreren Ansprachen und Wortbeiträgen an die Opfer der Shoa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnert. Um 12.00 Uhr wurde eine Friedensglocke geläutet und es gab eine Schweigeminute zu Ehren der Opfer der menschenverachtenden NS-Vernichtungspolitik. Bürgermeister Frank Peter Ullrich mahnte vor der Gefahr eines erstarkenden Antisemitismus und rief zur Wachsamkeit und zum Engagement für Menschlichkeit und Demokratie auf. Der WDR berichtete in der Lokalzeit aus Aachen über diese Veranstaltung.

Am Nachmittag hatten Schülerinnen und Schüler des Stiftischen Gymnasiums dann wie bereits im vergangenen Jahr Gelegenheit, an einer weiteren Gedenkveranstaltung zu partizipieren, an der auch eine Schülergruppe aus Nesher (Israel) teilnahm. Gemeinsam mit ihrem israelischen Kollegen Or Mordo hatten Dr. Thomas Rubel und Dr. Achim Jaeger als Vertreter des Stiftischen Gymnasiums wiederum ein Online-Meeting organisiert. Nachdem Roy Levi als Bürgermeister von Nesher ein Grußwort an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerichtet hatte, berichtete die Zeitzeugin Sarah Goldenberg über ihr Leben und das ihrer Familie.

Die heute 86jährige Sarah Goldenberg wurde 1936 in Warschau geboren. Als sie zweieinhalb Jahre alt war, flohen ihre Eltern mit ihr aus Warschau gen Osten. Sie erreichten zunächst das an der polnisch-russischen Grenze gelegene Bialystok und gelangten später nach Vilnius in Litauen. Sarah Goldenberg war vier Jahre alt, als die Familie vor den Nationalsozialisten weiter nach Osten flüchtete und in Moskau Station machte, um zwei Wochen später von dort nach Wladiwostok zu reisen. Von hier aus ging es weiter mit dem Schiff via Sibirien nach Shanghai. Gemeinsam mit ihrer Familie lebte Sarah Goldenberg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Ghetto von Shanghai. Sie gehörten zu den etwa 20000 meist aus Deutschland, Österreich und Polen stammenden jüdischen Emigranten, die es schafften, die lange Strecke bis nach Shanghai unter oft schwierigen Bedingungen zu bewältigen und dem nationalsozialistischen Terror und Völkermord zu entgehen.

Durch den Konsul des Japanischen Kaiserreichs in Litauen, Chiune Sugihara, der durch Leistung seiner Unterschrift ca. 6000 Juden das Leben rettete und deshalb später als „Japanischer Schindler“ bezeichnet wurde, erhielten auch Sarah Goldensteins Eltern ein Visum, das es ihnen ermöglichte mit ihrer Tochter nach Shanghai zu flüchten. Die Stadt war für die Verfolgten die letzte Zuflucht, da viele Länder 1938 ihre Grenzen für jüdische Menschen aus Deutschland und Österreich geschlossen hatten und kein Asyl gewährten. Die Konferenz von Evian hatte damit geendet, dass die Delegierten von 32 Ländern erklärten, sie hätten zwar gern eine beträchtliche Anzahl von Flüchtlingen aufgenommen, seien jedoch bedauerlicherweise dazu nicht imstande.

Im Ghetto, das im Stadtbezirk Hongkou gelegen war und eine Fläche von ca. 2,5 Quadratkilometern umfasste, überlebten die jüdischen Flüchtlinge in der von Japan besetzten Stadt Shanghai. Ein bekannter deutscher Flüchtling ist übrigens der spätere Finanzminister der USA, W. Michael Blumenthal,  der von 1997 bis 2014 Direktor des Jüdischen Museums Berlin war. Vom Leben in der Stadt und der Besetzung Shanghais durch die Japaner erzählt beispielsweise der Roman „Das Reich der Sonne“ (Empire oft he Sun) des britischen Autors J.G. Ballard, der 1987 von Stephen Spielberg verfilmt wurde.

Sarah Goldenberg verbrachte ihre Kindertage in Shanghai, besuchte den Kindergarten und die jüdische Schule („Shangahi Jewish School“) im Ghetto. Später habe die Familie die Gelegenheit erhalten, nach Japan einzureisen und die Japaner hätten sie freundlich empfangen. In Kobe fand die Familie eine vorübergehende Heimstatt, doch nach dem Angriff auf Pearl Harbour sei sie wieder zurück nach Shanghai übersiedelt. Während ihres detaillierten Vortrags in englischer Sprache gewährte Sarah Goldenberg Einblicke in ihre Familiengeschichte, zeigte private Fotos aus dem Familienalbum und Landkarten, auf denen die Wege ihrer Flucht markiert waren. Es war für alle, die an dieser denkwürdigen Veranstaltung teilnahmen, eine sehr persönliche und tief berührende Begegnung mit einer Zeitzeugin.

Wenige Tage nach dem 80. Jahrestag der Berliner Wannseekonferenz, auf der 1942 die systematische Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa beschlossen worden war, hatte der Zeitzeugenbericht von Frau Goldenberg besonderes Gewicht und führte eindrücklich vor Augen, dass mit viel Glück eine Überlebenschance durch den Aufenthalt im Ghetto von Shanghai bestanden hatte. Nachdem Frau Goldenstein ihren Lebensbericht beendet hatte, konnten die Jugendlichen aus Israel und Deutschland Fragen an sie richten. Auf die Frage des Stift-Schülers Ivan Jaouani, warum sie nach Israel ausgewandert sei, antwortete Sarah Goldenberg, dass dies eine lange Geschichte sei. Nach Kriegsende war die Familie in die USA immigriert. Hier, in der Gegend von New York, lernte sie ihren Ehemann Arvey kennen, mit dem sie eine Familie gründete und vier Kinder hat. 1975 übersiedelten die Goldenbergs dann nach Israel. Heute hat Sarah Goldenberg eine große Familie: vier Söhne, 14 Enkelkinder und 13 Urenkel.

Der Oberstufenschüler Felix Budweg stellte seitens der Stift-Schüler die Frage, welche Botschaft Sarah Goldenberg heute an die junge Generation richte. „Never forget!“, antwortete sie appellierend. Beendet wurde das Online-Meeting zum Holocaust-Gedenktag an dem insgesamt 62 Personen teilnahmen, darunter 35 Schülerinnen und Schüler sowie acht Lehrerinnen und Lehrer des Stiftischen Gymnasiums, mit einem herzlichen Dank an Sarah Goldenberg und einer freundlichen Einladung nach Düren, worüber sie sich freute.

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