Michel Friedman spricht zum Internationalen Holocaust-Gedenktag mit Schülergruppen der Nesher High School und des Stiftischen Gymnasiums Düren

6.02.2024 | Aktuelles, Allgemein, Austausch, Geschichte, Veranstaltungen

Am weltweiten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wird alljährlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht, die am 27. Januar 1945 durch sowjetische Truppen erfolgte. Anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags 2024 war der bekannte Journalist und Publizist Prof. Dr. Michel Friedman von unserer Schule zu einem internationalen Online-Meeting eingeladen worden.

Der deutsch-französischer Publizist, Talkmaster, Jurist und Philosoph Michel Friedman (Foto: Nicci Kuhn)

Bereits zum vierten Mal seit 2021 veranstaltete das Stiftische Gymnasium zusammen mit der im Norden Israels gelegenen Nesher High School eine solche Online-Gedenkveranstaltung, in deren Mittelpunkt immer das Statement eines Zeitzeugen des Holocaust bzw. deren Nachfahren steht. In diesem Jahr hatte die Veranstaltung mit ihrem ungewöhnlichen Format aufgrund des Gaza-Krieges und des in Deutschland sehr bekannten Gastes einen ganz besonderen Charakter.

Das Treffen war von den Lehrkräften Dr. Thomas Rubel,  Dr. Achim Jaeger, Amelie Lütz-Gras,  Carolin Haller, Luise Traxel und Georg Mierau sorgfältig vorbereitet worden, doch das Leben ist voller Überraschungen: Es gab technische Probleme beim Eintritt in den virtuellen Konferenzraum, so dass der Kontakt schließlich durch eine Standleitung gewährleistet wurde und Dr. Thomas Rubel den prominenten Gast telefonisch begrüßte. So war es am Ende doch möglich, dass Michel Friedmann sich an die jungen Zuhörer sowie an die beim Meeting anwesende Lehrerschaft aus unterschiedlichsten Fachbereichen und Schulleiter Ulrich Meyer wenden konnte.

Nach der Eröffnung des Online-Meetings durch Luise Traxel begrüßte Dr. Thomas Rubel offiziell die Leiter beider Schulen sowie alle Teilnehmer, wobei er Michel Friedman sehr herzlich für seine aktive Beteiligung an der Veranstaltung dankte. Dieser begann seine Ausführungen mit einer Beschreibung der Lebenssituation seit dem 7. Oktober 2023. Der Angriff auf Israel durch die Hamas sei ein Pogrom gewesen, der nicht zu erwarten und zudem die schrecklichste Gewalttat seit der Shoah gewesen sei. Der offenkundige Antisemitismus, der nun in vielen Teilen der Welt zum Ausdruck komme, sei bedrohlich.

Als Sohn von Überlebenden der Shoah treffe ihn dies besonders. Seine Mutter, sein Vater und seine Großmutter seien in seiner Familie die einzigen, die die Verbrechen des Nationalsozialismus überlebten. Sie waren bei Oskar Schindler in Krakau beschäftigt, standen auf „Schindlers Liste“. Schindler sei der Beweis dafür, dass auch ein Einzelner aktiv handeln könne, um sich dem Unrecht zu widersetzen. Wenn Schindler dies damals gekonnt habe, so frage er sich, was wir heute tun könnten, wenn wir uns mit rechtsextremen politischen Kräften in Deutschland und in Europa konfrontiert sehen.

Das Versprechen, das Deutschland nach der Shoah gegeben habe – „Nie wieder“ – sei offensichtlich gebrochen worden, konstatierte Friedman. Denn wenn es nicht gebrochen worden wäre, ließe sich die hohe Zahl der Antesemiten und AfD-Anhänger nicht erklären. Seien vor Jahren viele Juden nach Deutschland, insbesondere nach Berlin gekommen, um dort frei zu leben, so stellten sich viele nun die Frage, ob sie hier im Land noch sicher seien.

Die Einladung zur Online-Gedenkveranstaltung (gestaltet von Dr. Thomas Rubel)

Die politischen Entwicklungen seien nicht klar zu prognostizieren, allerdings seien sie besorgniserregend. Das Erstarken des Populismus sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen ließen deutlich werden, dass das 21. Jahrhundert eines der Autokratien werde und demokratische Strukturen gefährdet seien. Der Umstand, dass Synagogen, jüdische Einrichtungen und Schulen in Deutschland stets bewacht würden, deute darauf hin, wie gefährdet das jüdische Leben in Deutschland ohnehin sei.

Die Verantwortung insbesondere der jungen Menschen in Deutschland sei es, nicht zu vergessen und nicht nach den End-, sondern den Startpunkten politischer Entwicklungen zu fragen. Es heiße, Stellung zu beziehen und es sei erforderlich, in der Schule zu diskutieren. Wir seien nach der Shoah und eingedenk der jüdischen Opfer dazu verpflichtet, zu fragen, wo die Anfänge jener Einstellungen auszumachen sind, die schließlich zu Auschwitz und dem Völkermord an den Juden führten.

Die sich heute entfaltenden Strukturen seien ähnlich wie damals begründet auf Antisemitismus, Hass und Ausgrenzung. Es gebe keine Zwangsläufigkeit in der Geschichte, weshalb es wichtig sei, gesellschaftlich vor dem Erreichen des „Breaking Point“ gegenzusteuern, rote Linien aufzuzeigen und für diese auch im alltäglichen Leben einzustehen. Als Beispiel führte Michel Friedman das Potsdamer Treffen einflussreicher Leute an, bei dem über die Ausweisung von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen worden sei.

Angesichts der wachsenden populistischen Bewegungen in Deutschland und Europa, aber auch in anderen Staaten offenbare sich eine Tendenz hin zu autokratischen Regierungen, die eine Herausforderung, ja eine Bedrohung der Demokratie darstellten. Dies stelle unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. „Ich glaube fest an die Menschlichkeit, ich glaube, dass wir einander achten müssen“, betonte Michel Friedman. Gegenseitiger Respekt sei das Entscheidende. Keine andere Staatsform als die Demokratie könne sich effizient für Menschenrechte einsetzen und Freiheit garantieren.

Amelie Lütz-Gras, die das Online-Treffen ebenfalls moderierend begleitete, teilte die teilnehmenden Jugendlichen nach Michel Friedmans Ausführungen in verschiedene Gruppen-Chats ein, in denen sich die israelischen und deutschen Schüler über die prononcierten Statements austauschen konnten. Darüber hinaus konnten auch Fragen des alltäglichen Lebens besprochen werden. Friedman führte das Gespräch in der Gruppe der Lehrkräfte fort.

Er antwortete auf Fragen zu gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland und Israel, zu Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und zu Überlegungen, die auf eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland abzielen. Auch die Bedeutung der Vermittlung von Kenntnissen über die Shoah im Schulunterricht kam zur Sprache.

Screenshot einiger Lehrkfräfte, die an dem Online-Meeting teilgenommen haben

Erfreut nahm Michel Friedman zur Kenntnis, dass in Düren am 27. Januar, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, über 5.000 Menschen friedlich für eine offene, bunte und tolerante Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus demonstriert hatten. Es sei grundsätzlich wichtig, jüdisches Leben in Deutschland wahrzunehmen und jüdische Kultur kennenzulernen und wertzuschätzen. So könne Judentum mit Leben, nicht nur mit den Verbrechen der Shoah assoziiert werden. Durch persönliche Begegnungen sei eine Möglichkeit gegeben, Stereotype und Vorurteile abzubauen. Es sei wichtig, zu betonen, dass von Diskriminierungen nicht nur jüdische Menschen, sondern auch andere soziale Minderheiten betroffen seien.

Im abschließenden Plenum beantwortete Friedman zunächst die Frage, welchen Einfluss das Schicksal seiner Familie und die Shoah auf sein Leben als junger Mensch und als Student gehabt hätten. Er, der in Paris geboren wurde, sei in seiner Kindheit nach Deutschland gekommen. Trotz aller bitteren Erfahrungen sei er geblieben und habe den Ortswechsel nicht bereut. Allerdings habe er sich entscheiden müssen, zu bleiben oder zu gehen. „Auch ihr müsst euch entscheiden und Farbe bekennen“, rief er den Jugendlichen zu.

Die Schülerfrage nach den Gründen des Erstarkens radikaler Kräfte in Europa bezeichnete Friedman als eine sehr gute und wichtige. Zum einen würden einfache Lösungen angeboten, zum anderen stünden viele Probleme auch im Zusammenhang mit einer Überforderung vieler Menschen, die mit dem technischen Fortschritt nicht mithalten könnten. Die Wandlungen, die im noch jungen 21. Jahrhundert auszumachen seien, gingen mit der neuen Positionierung großer politischer Kräfte einher.

Für viele Menschen sei diese neue politische Situation beängstigend. Das Ende der bipolaren politischen Konstellation zeichne sich seit Längerem ab, erstarkende Staaten wie China versuchten als Global Player mehr Gewicht zu bekommen. Einen dritten Grund sieht Michel Friedman in der eklatanten Kluft zwischen Arm und Reich. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit verlange Lösungen von einer demokratischen Gesellschaft.

In seinem Schlusswort betonte Michel Friedman, dass er Vertrauen in die Jugend habe und hoffe, dass sie die Probleme der Gegenwart meistere. Er selbst versuche jeden Tag so zu leben, dass er seinem sozialen Umfeld mit Respekt und Wohlwollen begegne. Ganz im Sinne Lessings hob er hervor, es komme auf die Menschlichkeit sowie einen respektvollen und liebvollen Umgang miteinander an. Die Liebe sei das Wichtigste.

Am Ende der Veranstaltung, an der rund 70 Jugendliche sowie Lehrpersonen aus Düren und Nesher teilgenommen haben, dankte Dr. Achim Jaeger Michel Friedman für seine Offenheit und seine authentische Darstellung persönlicher und familiärer Erfahrungen. Zudem sprach er eine herzliche Einladung nach Düren aus, um das Gespräch fortzusetzen. Schließlich dankte er allen Teilnehmern der Online-Gedenkveranstaltung und stellte die Fortsetzung der gemeinsamen deutsch-israelischen Gedenkveranstaltung im kommenden Jahr in Aussicht.

Text: Jg

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