Die brennende Kathedrale von Paris – ein Symbol für Europa?

6.02.2024 | Aktuelles, Allgemein, Geschichte, Kultur, Lesungen und Vorträge

Beeindruckender Vortrag von Prof. Dr. Max Kerner am Stiftischen Gymnasium Düren

Nachdem Prof. Dr. Max Kerner im September 2019 bereits einen faszinierenden Vortrag zum Mythos der großen Frauengestalt Maria Magdalena am Stiftischen Gymnasium gehalten hatte, folgte er nun erneut einer Einladung zu einem Vortrag nach Düren. In der Reihe „Lesung und Gespräch“ widmete sich der Aachener Historiker am 30. Januar 2024 dem Thema „Die brennende Kathedrale von Paris – Ein Symbol für Europa? Überlegungen zu unserer kulturellen Identität.“

Erneut zu Gast am Stift: Prof. Dr. Max Kerner (Foto: Dr. Achim Jaeger)

Im voll besetzten Musiksaal begrüßte Dr. Achim Jaeger den Referenten und dankte diesem für sein Kommen sehr herzlich. Sodann wurden die Zuhörer mit einigen Eindrücken aus Jean-Jacques Annauds Film „Notre Dame brûle“ auf das Vortragsthema eingestimmt. Dann wurde der „Nullpunkt“ („point zéro“), also jener auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre Dame ins Pflaster eingelassenen Stern, in den Blick genommen, von dem aus seit der Verordnung durch ein königliches Dekret im Jahr 1739 alle Entfernungen von und nach Paris gemessen werden.

Kerner erläuterte die Bedeutung jenes französischen Fundamentalpunktes vor dem Haupteingang der Kathedrale als Mittelpunkt für Frankreichs Landstraßennetz seit dem 18. Jahrhundert und fragte, woran sich Frankreichs zerrissene Gesellschaft heute orientieren könne. Dann präsentierte er Bilder und Eindrücke der Brandkatastrophe vom 15./16. April 2019, als „Europas Herz in Flammen“ stand.

Der Referent zeigte auch die Folgen des Brandes und die verschiedensten Überlegungen, wie eine Restaurierung erfolgen solle, auf. Erwähnung fand auch eine sehenswerte Ausstellung in der Pariser Cité de l’architecture, welche Auskunft über den Wiederaufbau der Kathedrale gibt. Die Arbeiten auf der Jahrhundertbaustelle machen Fortschritte, seit Dezember 2023 hat Notre Dame wieder einen Spitzturm. Auch der Reliquien beinhaltende, restaurierte Wetterhahn wurde wieder aufgesetzt.

Reflektiert wurde alsdann die Kathedrale Notre Dame als geschichtlicher Erinnerungsort Frankreichs in mehrfacher Hinsicht: als Zeugnis des Christentums, als Symbol der Nation und als Chiffre einer gespaltenen Gesellschaft. Kerner stellte zudem die Bedeutung als zeitliche und örtliche Mitte der gotischen Kathedrallandschaft in Frankreich sowie die großartige Gestaltung der Fassade und der Portale heraus. Auch der Stellenwert der Dornenkrone als Passionsreliquie und ihre Geschichte thematisierte er in seinen Ausführungen. Die Funktion als Nationales Monument – erinnert sei beispielsweise an Napoleons hier inszenierte Kaiserkrönung 1804 – und als Sehnsuchtsort zeigte der Historiker ebenso auf wie die Entwicklung vom verfallenden Bau des Mittelalters zur idealisierten gotischen Kathedrale (1844-1864).

Nach diesem multiperspektivischen Näherungsversuch stellte Max Kerner die Suche nach einer gemeinsamen Kultur in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die eindrückliche Metapher vom „Archipel européen“, also der Vorstellung der europäischen Staaten als einer Gruppe von kulturellen Inseln, führte den Referenten auf die Suche nach einer gemeinsamen Kultur. Dabei wurden fundamentale Fragen aufgeworfen, etwa, ob Frankreich sich – wie Michel Houellebecq es in seinem Roman „Soumission“ (Unterwerfung) fiktional darstellte – zu einem islamischen Staat entwickle. (In Erinnerung gerufen wurde, dass am 7. Januar 2015, dem Tag, an dem der genannte Roman in Frankreich erschien, ein terroristischer Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ stattfand, bei dem zwölf Menschen getötet wurden.)

Eine andere Frage war die danach, ob das Christentum gerade ein „Stück Altertum“ werde. Für diesen Eindruck spreche beispielsweise der unlängst beschlossene Verzicht auf eine Abbildung der beiden Türme des Kölner Doms im Logo der Stadt Köln. Der Philosoph und Kulturkritiker George Steiner (1929-2020), ein „Gigant alteuropäischer Bildung“, sieht in der Überlieferung der großen Werke europäischer Kultur eine zentrale Aufgabe, um die Identität Europas zu stärken. Für Emmanuel Macron wiederum liegt der Kern des Europäischen im Hinblick auf Sprache, Literatur und Kultur in der Idee des Eigenen wie des Fremden begründet. „Vertraute Fremdheit“ sei für ihn ein Schlüsselbegriff für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Kultur, die traditionelle Wertvorstellungen und moderne Denkmuster sowie unterschiedliche kulturelle Herkünfte berücksichtige.

Deutlich wurde in den Ausführungen Kerners, in welch umfassendem und vielfältigem Maße Notre Dame von Paris ein Zeugnis unserer kulturellen Identität in Europa war und ist. So stelle sich am Ende die entscheidende Frage: „Wo gehen wir hin?“ Die Herausforderung, in dem ewig unfertigen Europa durch „kulturelle Übersetzung“ eine wertbezogene und offene Gesellschaft zu schaffen bzw. zu erhalten, sei – pathetisch formuliert – eine Überlebensfrage unseres Kontinents.

Max Kerner gelang es in seinem lebendigen Vortrag komplexe kulturhistorische Zusammenhänge aufzuzeigen und wichtige gesellschaftliche Fragen zu stellen. Ein kräftiger Applaus war ein deutliches Zeichen für die positive Resonanz. Am Schluss der Veranstaltung danke Dr. Achim Jaeger dem Referenten nochmals ich für seine anregenden und bereichernden Ausführungen und überreichte ihm zur Erinnerung an den Abend u. a. einen Sonderdruck der Pariser Buchhandlung Shakespeare & Company, der Gedichte über „Notre Dame“ enthält, und den aktuellen Bildband „Düren in Bild und Wort.“

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