Am 16. November 1944 wurde das historische Düren fast vollständig zerstört. Zum 80. Mal jährte sich 2024 dieser schwärzeste Tag in der Geschichte der Stadt und deren heutige Bewohner gedachten der Opfer und Ursachen des Ereignisses in Form unterschiedlicher Veranstaltungen, auch Zeitzeugen kamen dabei zu Wort. Durch einen verheerenden Luftangriff erfuhr auch die Stadt Dresden, deren architektonisches Bild von meisterhaften Bauwerken unterschiedlicher Epochen geprägt war, in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 schwere Beschädigungen, Teile der Stadt wurden ebenso total verwüstet. Der fürchterliche Feuersturm von Dresden: ein im kollektiven Gedächtnis verhaftetes traumatisches Ereignis. Das zerstörte Dresden wurde zu einem Symbol für die vernichtende Wirkung des Bombenkrieges auf die Zivilbevölkerung und Kulturgüter.
Der 1962 in Dresden geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Durs Grünbein hat sich bereits mehrfach literarisch mit der Zerstörung seiner Heimatstadt auseinandergesetzt. Düren hatte er vor gut 20 Jahren schon einmal besucht, um auf Schloss Burgau seine Lyrik vorzutragen. Am 11. Dezember 2024 stellte der in Berlin und Rom lebende Autor jetzt im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Lesung und Gespräch“ seinen aktuellen Roman „Der Komet“ am Stiftischen Gymnasium vor. Nachdem Dr. Achim Jaeger als Moderator des Abends den Büchner-Preisträger freundlich begrüßt hatte, stellte sich Letzterer mit dem Gedicht „1962“ aus dem Band „Äquidistanz“ (2022) gewissermaßen selbst vor.
Dann las Durs Grünbein ausgewählte Textstellen aus seinem Roman „Der Komet“, in dem der Autor weitgehend chronologisch von Dora W., seiner Großmutter, erzählt. Durch die eindrückliche Lesung wurden dem Auditorium zunächst die Protagonisten des Romans, nämlich Dora W., deren Mann Oskar und die Freundin Trude, nähergebracht. Die zentrale Romanfigur Dora, die in Niederschlesien geboren wurde, dort die Ziegen hütet, die Volksschule besucht und dann in einem Blumenladen arbeitet, lernt 1933 mit 13 Jahren ihren künftigen Mann Oskar kennen, geht mit 16 Jahren nach Dresden und wird schon kurz darauf Mutter.
Im ersten Gespräch mit dem Autor stellte Dr. Achim Jaeger zunächst Fragen nach der Konzeption des Romans und der Poetologie des Erzählens. Es sei hier offenbar die persönliche Situation der Romanfiguren in Beziehung gesetzt zu politischen Entwicklungen der Zeit, so dass sich die kleine Welt gleichsam in der großen spiegle. Durs Grünbein erläuterte den gewählten Ansatz des autofiktionalen Schreibens, der es erlaube, all das, was nicht durch Quellen, Berichte, Dokumente oder Fotos zu belegen sei, mit künstlerischer Freiheit auszugestalten. Er habe viel recherchiert, historische Stadtpläne studiert, Zeitungen jener Tage gelesen, um eine sehr dichte Atmosphäre zu schaffen.
In der Tat: Die Leser- und Zuhörerschaft nimmt wahr, wie die literarischen Gestalten zu Persönlichkeiten werden, Alltagsmomente zum Greifen nah erscheinen, Geräusche und visuelle Eindrücke aus der Welt des Romans lebendig werden, sich zu einem Stadtbild verdichten, wodurch auch die Stadt Dresden selbst zu einer Protagonistin des Buches wird. Geschickt platziert leuchten im Text auch Signalwörter auf, die vielfältige Assoziationen ermöglichen und dadurch literarische Räume öffnen, etwa wenn der Autor als Erzählstimme im Text selbst zu Wort kommt und beispielsweise von der „Villa Aurora“ in Los Angeles berichtet, die bekanntlich zu einem Treffpunkt deutschsprachiger Emigranten wurde.
Seit 1941 wohnten Marta und Lion Feuchtwanger hier und veranstalteten in ihrem Haus in Pacific Palisades regelmäßig Lesungen, Konzerte und Empfänge. Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Bruno Frank, Charlie Chaplin, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Hanns Eisler, Ernst Toch und viele weitere Künstler und Intellektuelle zählten zu den Gästen. Mit dem Stichwort „Villa Aurora“ wird gleichsam ein Gegenpol zur Durchdringung deutschen Alltags mit nationalsozialistischer Ideologie geschaffen und es werden zudem die Themen Literatur und Exil dezent in den Roman eingewoben.
Im Gespräch merkte Dr. Achim Jaeger an, dass bekanntlich auch Michael Lentz in seinem Roman „Pazifik Exil“ virtuos, faktenbasiert erinnernd und auch fiktionalisiert von den Emigrantenschicksalen jener Künstler und Intellektueller erzählt. Abgesehen vom Erzählverfahren, das gelebte Biographie und Fiktion verquickt, wird stellenweise die Perspektive des Enkels manifest, wenn dieser beispielsweise in Bezug auf die Großmutter Dora äußert: „Es gab so vieles, was ich sie gern noch gefragt hätte…“
Durs Grünbein setzte seine eindrückliche Lesung fort mit dem Vortrag von Textstellen, die das Leben von Dora und Oskar in Dresden schildern und solchen, die einen Ausblick nach Berlin geben. Hier, in der damaligen Reichshauptstadt, fanden im Jahr 1936 die Olympischen Sommerspiele statt. Die Regisseurin Leni Riefenstahl dokumentierte das Großereignis filmisch in dem Propagandafilm „Olympia“, der 1938 erschien. Ausgehend von der Darstellung eines historischen Ereignisses in (bewegten) Bildern wurde im Gespräch mit Durs Grünbein das von ihm bereits wiederholt gewählte Verfahren in den Blick genommen, den Text mit Bildern zu kombinieren.
Der Autor selbst spricht von „Photo-Synthese“, wenn er Fotos oder historische Postkarten als Bildquellen in den Text einfügt – ein Gestaltungsprinzip, das auch W.G. Sebald anwandte, zuletzt in seinem Roman „Austerlitz“ (2001). Darüber hinaus eröffnen beispielsweise Hinweise auf die Tagebücher Viktor Klemperers oder Leitmotive (etwa: Komet, Zeppelin, Porzellan) intertextuelle Bezüge – auch zu anderen Werken Durs Grünbeins, etwa zu „Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt“ (2005) oder den Oxford Lectures „Jenseits der Literatur“ (2020), wo ebenfalls die Zerstörung Dresdens thematisiert ist.
Schließlich wurde der Blick noch einmal auf den titelgebenden Kometen gerichtet, der im Roman ein unsichtbar heranrückendes Verhängnis symbolisiert, dem der einzelne Mensch hilflos ausgeliefert ist. Während Dora, das Mädchen vom Lande, zu einer Städterin wird und sich langsam aber stetig mit ihrem Mann eine kleinbürgerliche Existenz aufbaut, vollzieht sich ebenso stetig ein gesellschaftlicher Wandel, in dem die Ideologie des Nationalsozialismus immer mehr Raum gewinnt.
Das Alltagsleben ändert sich, dem aufmerksamen Zeitgenossen – und Leser – kann dies kaum entgehen. Parteisymbole wie etwa die Hakenkreuzfahne prägen zunehmend das Straßenbild, ebenso sind Stigmatisierungen an der Tagesordnung, zum Beispiel, wenn die jüdische Bevölkerung in der Öffentlichkeit den „Judenstern“ tragen muss. Wahrnehmbar sind bedenkliche Zeichen des Untergangs und Dora erinnert sich an das Erscheinen des Halleyschen Kometen im Jahr 1910 und die damit verbundene Kometenpanik, da man befürchtete, die Welt würde untergehen.
Am Ende des bereichernden literarischen Abends, der vom Verein der Freunde und Förderer des Stiftischen Gymnasiums freundlich unterstützt wurde, gab es noch interessante Fragen aus dem Publikum, die Durs Grünbein ausführlich beantwortete und dann seine Bücher gerne auf Wunsch persönlich signierte.