von Tim Schäfer und Schülerinnen und Schüler der Einführungsphase
Sehr geehrte Damen und Herren,
Anfang dieses Jahres durfte ich Herrn Peter Hippe im Rahmen eines Zeitzeugengesprächs am Stiftischen Gymnasium kennenlernen, als er anschaulich und detailliert über sein Leben in der DDR berichtete. Nach Einladung zu der heutigen Veranstaltung und der Anregung Herrn Hippes, ob auch geschichtsinteressierte Schülerinnen und Schüler einen Beitrag leisten wollten, trug ich diese Idee in den Geschichtskurs der Einführungsphase, welche dort auf großes Interesse stieß.
In den folgenden Geschichtsstunden erfolgte eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 17. Juni anhand verschiedener Zugänge und Materialien: Darstellungen, Fotos, Videos sowie auch künstliche Intelligenz wurden herangezogen.
Die künstliche Intelligenz ChatGPT erklärt den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 knapp und sachlich:
„Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war ein Aufstand der Bevölkerung der DDR gegen das kommunistische Regime. Der Aufstand begann als Proteste gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen und die schlechten Lebensbedingungen in der DDR, insbesondere in Ost-Berlin.
Am Morgen des 17. Juni 1953 gingen Tausende von Arbeitern und Studenten auf die Straßen, um gegen die kommunistische Regierung zu protestieren. Der Protest weitete sich schnell auf andere Städte in der DDR aus, und es kam zu Massenstreiks und Demonstrationen. Die Protestierenden forderten unter anderem die Freilassung politischer Gefangener, Meinungsfreiheit, freie Wahlen und eine Verbesserung der Lebensbedingungen.
Die Regierung der DDR reagierte auf die Proteste mit Gewalt und rief die sowjetische Armee zu Hilfe. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und der Polizei, sowie zwischen den Demonstranten und der sowjetischen Armee. Schätzungsweise 55 Menschen wurden getötet und über 15.000 verhaftet.“
Diese Ausführungen sind korrekt, aber sie erlauben nicht, die individuelle Bedeutsamkeit jenes Tages für die Menschen in der DDR zu erkennen. Um die persönlichen Erlebnisse und Gedanken im Zusammenhang mit dem 17. Juni zu erfahren, wurde sich daher mit niedergeschriebenen Zeitzeugenberichten auseinandergesetzt, von denen eine kleine Auswahl nun auszugsweise vorgestellt wird.
Günter Raabe, Jahrgang 1935, erinnerte sich an den 17. Juni in Bitterfeld:
„Wir, das heißt meine Eltern und ich, hatten am 16. Juni in den Abendnachrichten, natürlich im verbotenen Sender RIAS, gehört, daß in Berlin Bauarbeiter wegen der Normenerhöhungen auf der Straße demonstriert hatten. Bei uns kam Erstaunen und große Freude auf, aber wir dachten, daß diese Demonstration zwar etwas Bedeutendes, aber auch Einmaliges bleiben würde.
Am nächsten Tag (17. Juni) war es in dem Haus, in dem wir wohnten, unruhig. Hausbewohner berichteten, im Werk würden die Arbeiter demonstrieren. Genaueres konnte niemand sagen, aber alle waren in gespannter Aufmerksamkeit.
In meiner Erinnerung war dieser Tag ein sonniger Tag, wir wohnten im Erdgeschoß und hatten die Fenster zur Straßenseite auf. Es muß so gegen frühen Mittag gewesen sein, als draußen Stimmengewirr ertönte, zunächst verhalten, dann immer lauter. Ich stürzte zum Fenster und sah gerade an der Ecke zur Stalinstraße, wo früher die Maschinenfabrik Martin war, auf breiter Front Männer marschieren, viele von ihnen in Arbeitskleidung. Auch in den anderen Häusern in unserem Straßenabschnitt standen Menschen an den Fenstern. Sie wurden von den Demonstrierenden aufgefordert, mit zu demonstrieren. Viele kamen dieser Aufforderung nach, so auch ich.“
Wilhelm Fiebelkorn schrieb 1991 seine Erinnerungen an diesen Tag nieder:
„Vor Erregung schlug mein Herz bis zum Hals. Ich sah, daß die Arbeiter sich gegenseitig untergehakt hatten. Ein jeder zog und schob jeden. Die Fühlung, die Masse, machte sie stark und mutig. (…) Ich war wie in einem Rausch. […]
Kaum ein Fenster der Wohnstraßen blieb geschlossen. Alle waren offen. Frauen warfen Blumen auf die Streikenden. Viele winkten, da die Taschentücher zu klein waren, mit Bettlaken. Von dieser Flut der Begeisterung wurden alle angesteckt. Die Bitterfelder Einwohner reihten sich ein. Geschäfte schlossen, die Besitzer und Angestellten gingen mit. Die Stadt befand sich in einem Begeisterungstaumel. Nicht nur von mir, sondern von allen Seiten wurden nun politische Forderungen erhoben, von den Sprechchören angenommen und durch die Straßen geschrien. […]
Gegen 17.00 Uhr kam dann die Mitteilung: ‚In Bitterfeld rollen Panzer und Mannschaftswagen ein. Der Russe besetzt Bitterfeld.‘ Dann überschlugen sich die Meldungen: ‚Der Russe hat den Bahnhof besetzt! Der Russe hat das Gefängnis besetzt! Auf dem Dach des Gefängnisses sind MG postiert. Der Russe biegt mit seinen Panzern auf den Rathausplatz ein!‘ Innerlich aufgeregt, äußerlich ruhig, gab ich meine letzten Anweisungen an die vier noch ausharrenden Streikführer: ‚Haut ab! Hinten über die Mauer! Lasst Euch nicht vom Russen schnappen!‘ Dann ging ich.“
Erich Kluge, Mitglied der Streikleitung in Bitterfeld, erhielt eine mehr als zweijährige Haftstrafe und stellte nach seiner Freilassung in seinem Artikel in der West-Berliner-Tageszeitung „Telegraf“ anlässlich des dritten Jahrestages des Volksaufstandes eine bemerkenswerte Prognose auf:
„Die Zuchthausjahre haben in mir die Überzeugung gestärkt, daß es richtig war, was wir am 17. Juni 1953 unternommen haben. Aus dieser Tat wird einst die Einheit Deutschlands in Freiheit wachsen.“
Durch die Auseinandersetzung mit den Zeitzeugenberichten gewannen wir vielfältige Eindrücke. Wir erkannten, dass Menschen unterschiedlichen Alters, teilweise kaum älter als wir selbst, mutig für Freiheit und Menschlichkeit eingetreten waren. In den Zeitzeugenberichten erfuhren wir Begeisterung, Tatendrang sowie große Euphorie, aber zugleich auch Sorgen und Zukunftsängste. Das, was allen untersuchten Berichten gemein ist, ist das verbindende und bestärkende Gemeinschaftsgefühl jenes Tages, welches die Menschen zum Protest und Aufstand gegen die DDR-Regierung bewegte.
Es liegt in unserer Verantwortung, die Erinnerungen an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wachzuhalten und die Werte einer freien Demokratie bewusst zu schätzen und zu schützen.
Geschichte lehren, Geschichte lernen, Geschichte leben!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!