Schülerinnen und Schüler der Klasse 10b sowie Tim Schäfer
Düren, den 17. Juni 2024
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir möchten heute des 17. Junis 1953 gedenken und die Opfer jener Geschehnisse würdigen. Im Geschichtsunterricht setzten wir uns intensiv mit dem Volksaufstand auseinander und stießen daher auf die heute 55 bestätigten Toten. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, die Opfer nicht nur als Zahl zu listen, sondern sie namentlich zu ehren und ins Bewusstsein aller zu rufen.
Wir entschieden uns im Vorfeld der heutigen Gedenkveranstaltung dazu, zwei Personen auszuwählen, die im Rahmen des 17. Junis ihr Leben verloren und deren Geschichten uns berühren, um deren Schicksale exemplarisch für alle Opfer und Todesopfer vorzustellen.
Werner Sendsitzky – Ein ganzes Leben gegen ein paar Minuten
Werner Sendsitzky wurde am 17. Juni 1937 in Berlin geboren und war als Jugendlicher in der West-Berliner Motorradvermietung E. Brust als Laufbursche tätig. Jahre später fiel sein 16. Geburtstag unglücklicherweise auf den 17. Juni 1953 – ausgerechnet auf den Tag, an dem der Volksaufstand in der DDR stattfand, wobei Werner selbst im Westsektor lebte.
An jenem Tag war er nachmittags unterwegs, um noch die letzten Einkäufe für seinen Geburtstag zu erledigen. Zu Hause warteten seine Großmutter, zwei Tanten und vier seiner sechs Geschwister auf ihn; sie wussten jedoch nicht, dass das Warten bis in die Ewigkeit reichen würde. Auf dem Rückweg hielt Werner nämlich an und beobachtete mit weiteren Interessierten von einem Gebäudedach in der Liesenstraße aus eine Weile das Geschehen auf den Straßen Ostberlins. In diesen wenigen Minuten schien alles in Ordnung zu sein, mit der entscheidenden Ausnahme eines Warnschusses aus dem Ostsektor. Dieser traf den mehr als 150m weit entfernten Jungen genau ins Herz.
Ein Tag, der Werner Sendsitzky wegen seines Geburtstags eigentlich zu einer feierlichen und friedlichen Laune stimmen sollte, wurde letztendlich zu seinem bitteren Todestag, den er als eines der jüngsten Opfer mit vielen anderen teilt. Ein einziger fehlgeratener Warnschuss war genug, um dieses Schicksal zu besiegeln, welches uns heute immer noch an das Ausmaß der staatlichen Gewalt und den dagegen pulsierenden Aufstand erinnert.
Alfred Wagenknecht – Ein lange Zeit verschwiegener Mord
Der fünffache Familienvater Alfred Wagenknecht wurde am 28.11.1909 in Luban/Lauban geboren und starb am 21.06.1953 im Untersuchungsgefängnis Niesky. Seine Eltern besaßen ein Fuhrgeschäft, mit welchem er sich 1935 selbstständig machte. 1939 zur Wehrmacht eingezogen, kam er im Juli 1945 frei und fand sein Unternehmen durch den Krieg in Trümmern liegen.
Er lebte bis zum 17. Juni 1953 glücklich mit seiner Ehefrau Herta und ihren fünf Kindern zusammen, bis er auf dem Weg einer Milchlieferung einen aus Görlitz befreiten Häftling mitnahm und daraufhin vor seinem Haus verhaftet wurde. Wenige Tage später erhielt seine Frau Herta einen Anruf, dass er sich erhängt habe. Allerdings stellte man bei näherer Betrachtung keinerlei Strangulierungsmerkmale, dafür aber Verbrennungen, Blutergüsse und zahlreiche weitere Folterspuren fest.
Um dies zu verbergen, erteilte man eigentlich ein Verbot den Sarg zu öffnen; als er dennoch geöffnet wurde, wurde Alfreds Leichnam sofort beerdigt und alle Anwesenden wurden zur Verschwiegenheit verpflichtet. Heute liegt er auf dem Rotheburger Friedhof begraben und dort erinnert seit 2000 ein eigener Gedenkstein an Alfred Wagenknecht.
Neben Werner Sendsitzky und Alfred Wagenknecht möchten wir auch alle weiteren Todesopfer des 17. Juni 1953 namentlich ehren, damit ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten.
Dazu zählen:
Horst Bernhagen (21 Jahre), Edgar Krawetzke (20 Jahre und jungverheiratet), Rudi Schwander (14 Jahre, Schüler), Gerhard Schulze (41 Jahre, verheiratet, zwei Kinder), Gerhard Santura (19 Jahre), Oskar Pohl (25 Jahre, Student), Erich Nast (40 Jahre), Rudolf Berger (40 Jahre), Hans Rudeck (52 Jahre, Bauingenieur), Richard Kugler (25 Jahre), Kurt Heinrich (44 Jahre), Wolfgang Röhling (15 Jahre). Willi Göttling (35 Jahre, verheiratet, zwei Töchter im Alter von 6 und 7 Jahren), Oskar Jurke (57 Jahre, verwitwet), Alfred Diener (26 Jahre, verlobt, sechsmonatige Tochter, Hochzeit für den 19. Juni 1953 geplant), Alfred Walter (33 Jahre, Bäcker, verheiratet, seine Frau war im sechsten Monat schwanger), Horst Walde (27 Jahre, verheiratet, vier Kinder), Wilhelm Hagedorn (58 Jahre), Kurt Crato (42 Jahre), Gerhard Schmidt (26 Jahre), Manfred Stoye (21 Jahre), Rudolf Krause (23 Jahre, verlobt, erwartete in wenigen Monaten die Geburt seiner ersten Tochter), Edmund Ewald(25 Jahre, verheiratet), Horst Keil (18 Jahre, Auszubildener), Karl Ruhnke (61 Jahre), Margot Hirsch (19 Jahre, verheiratet), Hermann Stiele (33 Jahre, verheiratet, drei Kinder), Paul Othma (63 Jahre, Elektriker), Kurt Arndt (38 Jahre, verheiratet, Bergmann), Wilhelm Ertmer (52 Jahre, Uhrmacher), Adolf Grattenauer (52 Jahre, dreifacher Familienvater), Erna Dorn, Erich Langlitz (51 Jahre, Kraftfahrer), August Hanke (52 Jahre), Dieter Teich (19 Jahre), Elisabeth Bröcker (64 Jahre, Rentnerin), Paul Ochsenbauer (15 Jahre, im zweiten Jahr seiner Schlosserausbildung), Johannes Köhler (44 Jahre, Kaufmann), Eberhard von Cancrin (42 Jahre, verheiratet, zwei Töchter), Erich Kunze (28 Jahre, verheiratet, 5 Kinder), Herbert Kaiser (40 Jahre, Transportarbeiter, vier Kinder), Gerhard Dubielzig (19 Jahre, Maschinenschlosser), Joachim Bauer (20 Jahre), Johann Waldbach (33 Jahre, verheiratet, ein Sohn), Gerhard Händler (24 Jahre, verheiratet, drei Kinder), Georg Gaidzik (32 Jahre), Dora Borchmann (16 Jahre), Kurt Fritsch (47 Jahre, verheiratet, fünf Kinder), Horst Pritz (17 Jahre), Herbert Stauch (35 Jahre, zwei Söhne), Alfred Dartsch (42 Jahre, Lackierer), Ernst Grobe (49 Jahre, Landwirt) und Ernst Jennrich (42 Jahre, vier Kinder).
Dies waren die Namen der 55 Toten, die im Zusammenhang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ihr Leben verloren und deren Tode einen immerwährenden Schmerz für Familienangehörige und Freunde bedeutete. Jene getöteten Personen beteiligten sich teils aktiv am Protest und Aufstand gegen die DDR-Regierung oder beobachteten andernfalls als Interessierte die Geschehnisse aus vermeintlich sicherer Entfernung. Weit höher als die Zahl der Todesopfer war noch die Anzahl der Verhafteten, die oftmals zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Wir erkannten im Zuge der umfassenden Auseinandersetzung, dass Menschen unterschiedlichen Alters, teilweise kaum älter als wir selbst, mutig für Freiheit und Menschlichkeit eintraten.
Es liegt in unserer Verantwortung, die Erinnerungen an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wachzuhalten und die Werte einer freien Demokratie bewusst zu schätzen und zu schützen.
Geschichte lehren, Geschichte lernen, Geschichte leben!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!