Am 12. November 2023 präsentierte der Sprachkünstler Michael Lentz sein Meisterwerk „Chora“ im voll besetzen Musiksaal des Stiftischen Gymnasiums. Hier, am Stift, hatte er vor 40 Jahren sein Abitur absolviert, ehe er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Aachen aufnahm. Später wechselte er nach München und promovierte 1999 mit einer Arbeit zum Thema „Lautpoesie/-musik nach 1945“. Schon 1985 war Michael Lentz mit der Veröffentlichung „Zur Kenntnisnahme“ (Lyrik und Prosa) erstmals an die Öffentlichkeit getreten.
Seither publiziert er Gedichte, Romane, Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke, Essays und literaturwissenschaftliche Texte. Zudem beschäftigt sich Michael Lentz mit akustischer Literatur, Lautpoesie, Lautmusik, improvisierter Musik, Experimentalfilm und realisiert Musikprojekte. Für den Text „Muttersterben“ erhielt der vielfach ausgezeichnete Autor 2001 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten u. a. im Jahr 2005 der Preis der Literaturhäuser und 2012 der Walter-Hasenclever-Preis. Heute unterrichtet Michael Lentz als Professor für Literarisches Schreiben in Leipzig.
Deutsch- und Geschichtslehrer Dr. Achim Jaeger, der die Reihe „Lesung und Gespräch“ moderiert und den Schriftsteller nun zum zweiten Mal zu einer Lesung nach Düren einlud, studierte zeitgleich mit Michael Lentz in Aachen. Beide kennen sich seither. Nachdem Michael Lentz vor fünf Jahren bereits den Roman „Schattenfroh“ in der Aula des Gymnasiums präsentiert hatte, zog er nun erneut sein Publikum in den Bann. Denn wenn Michael Lentz seine Texte vorträgt, wird Literatur variantenreich zum Klang gebracht, werden die Buchstaben auf besondere Weise zum Leben erweckt.
So geht es ihm beim Schreiben und bei der Performance auch immer die Melodiosität der Sprache, um ganz unterschiedliche Klangfarben der Literatur, wobei das Spektrum Klangkaskaden und stakkatoartig vorgetragene Passagen ebenso umfasst wie solche von spielerischer Leichtigkeit. Wenn Michael Lentz seine Gedichte rezitiert, ist dies stets auch ein musikalisches Erlebnis. Der kreative Schriftsteller und Musiker, Lautpoet und Leiter des Deutschen Literaturinstituts Leipzig schreibt in „Textleben. Über Literatur, woraus sie gemacht ist und was aus ihr folgt“ (2011): „Der Dichter muss ein ,Sprachbegeisterter‘ sein oder er ist keiner, wie schon Novalis wusste. Und es kommt genau auf die Schnittstelle Sprache/Welt an, dass das genau getroffen wird, darauf kommt es an.“
Dass Michael Lentz ein solcher Sprachbegeisterter ist, der besagte Schnittstelle genau zu treffen und bei seiner lyrischen Performance alle Register zu ziehen weiß, davon konnte sich das Publikum seiner Lesung leibhaftig überzeugen. Im Anschluss an die Begrüßung des Autors führte Achim Jaeger die Zuhörerschaft zunächst an „Chora“ heran, indem er etwa exemplarisch auf literarische Motive wie die Amsel und deren ambivalente Bedeutung hindeutete. Laut Verlagsankündigung des Bandes geht es in dem Gedichtband „Chora“ „buchstäblich um alles – von A bis Z, von der Kindheit bis zum Tod. Im Zentrum steht nicht zufällig das Gedicht von einem Kind, das eine tote Amsel gefunden hat. Und beide, Kind und Gedicht, wollen die Amsel wieder zum Singen bringen.“
Michael Lentz ist ein Dichter, der seinesgleichen sucht, der Möglichkeiten von Bedeutung und Klang der Worte immer wieder in Form kunstvoller Anagramme auslotet und in einzigartiger Weise zu Gehör bringt, laut und leise, atemlos und zart. Alles beginnt mit „chora“, denn mit „dies ist chora“ setzt ein Vers zu Beginn der Gedichtsammlung ein, die in thematische Zyklen eingeteilt ist. Der Vortrag des Gedichts von der Oma, die nie das Meer gesehen hat, sowie jenes, das an den verstorbenen Bruder erinnert, öffnen literarische Räume, bahnen Wege in persönliche Erinnerungsräume und in die Welt der Bücher – von Langerwehe bis ins Alte Ägypten. Das faszinierende Schillern und Funkeln der Lentz‘schen Verse, die (Un-)Möglichkeit des Verstehens, das Changieren zwischen Tiefsinn und Unsinn, konstruieren und dekonstruieren Sprache und Bedeutung.
Es ist ein lustvolles, variantenreiches Spiel mit der Sprache, ein präzises Experimentieren mit Möglichkeiten im Rahmen (streng) vorgegebener Muster und Regeln, anknüpfend an Poeten wie Eugen Gomringer, Ernst Jandl und Oskar Pastior. Immer wieder ein Anagramm, für das Michael Lentz eine besondere Vorliebe hat und das auch als Instrument dienen kann, um von der Stasi benutzte Begriffe zu entzaubern. Michael Lentz stellte dies in unnachahmlicher Art und virtuos unter Beweis. Es war ein wunderbarer Abend voller Poesie in magischer Atmosphäre, ein Fest der Sprache. Ein Geschenk.
Die Veranstaltung wurde freundlich unterstützt durch den Verein der Freunde und Förderer des Stiftischen Gymnasiums. Für den guten Ton sorgte einmal mehr die Technik AG, der Büchertisch wurde von den Mitarbeiterinnen der Schülerbücherei betreut. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Besprechung von Michael Lentz: „Chora“ von Christian Metz: https://www.deutschlandfunk.de/michael-lentz-chora-buch-der-woche-dlf-fba00862-100.html